In wohl keinem anderen Bereich zuvor ist Rechtsprechung massig und kurzlebig, wie im Bereich der Corona-Maßnahmen. Die Bund-Länder-Beschlüsse vom Mittwoch, den 10. Februar und ihre nun doch nicht einheitliche Umsetzung in den Bundesländern dürfte das nächste Kapitel einläuten. Gartencenter, Zoos, Nagelstudios, Einzelhandel für Blumen und E-Zigaretten. Dort „erlaubt“ und hier „verboten“?
Kann bei vergleichbarem Infektionsgeschehen ein Grundrechtseingriff in Hamburg erforderlich sein, der es in Schleswig-Holstein nicht ist? Die Antwort der Gerichte lautete bislang immer: ja, er kann. Der Verordnungsgeber hat einen Gestaltungsspielraum, innerhalb dessen er (politisch) bewerten darf, was (rechtlich) erforderlich ist. Zu erinnern ist aus aktuellem Anlass aber auch an Aussagen wie den folgenden aus dem letzten Sommer:
"Darüber hinaus stimmt die Kammer der Ansicht der Antragstellerin zu, dass in einer Situation, in der die Pandemie nicht mehr unkontrolliert voranschreitet und zudem zusätzliche Erkenntnisse über die Erkrankung Covid-19 und ihre Verbreitungswege verfügbar werden, der Gestaltungsspielraum des Verordnungsgebers kleiner wird und die Aufrechterhaltung von Beschränkungen erhöhten Anforderungen bezüglich ihrer Rechtfertigung unterliegt und auch zunehmend ein in sich kohärentes Vorgehen zu verlangen ist.“ (VG Hamburg, Beschl. v. 11.06.2020 – 14 E 2317/20 – BA S. 8)
Hinzugekommen seitdem: Impfungen der vulnerablen Gruppen.
Verschlafen hingegen: Die Cluster-Rückverfolgung; wesentlicher Baustein zur Entwicklung sinnvoller Kohärenz und richtiger Schwerpunkte.
Hinzugekommen: Umfassende Hygienekonzepte, die in den Schubladen liegen und im Sommer und Herbst für viele Branchen schonmal für ausreichend risikomindernd befunden wurden.
Verschlafen: Die Zustellung der politischen Hilfspakete und die Einführung rechtlicher Entschädigungsansprüche.
Rechtlich vergessen und vor allem noch immer nicht mit Vertrauen in ihre Konzepte bedacht: Die komplette Eventbranche, von Catering bis Schausteller; die Tourismusbranche, Hotels und Gastronomie in großem Umfang, der komplette Kulturbetrieb.
Hinzugekommen auch: Die Reform des § 28a IfSG.
Ab einem 7-Tages-Inzidenzwert von 50 sind danach „umfassende Schutzmaßnahmen“ zu ergreifen, die eine „effektive Eindämmung“ des Infektionsgeschehens erwarten lassen. Ein 7-Tages-Inzidenzwert von 35 erlaubt und verlangt „breit angelegte“ Schutzmaßnahmen, die eine „schnelle Abschwächung“ des Infektionsgeschehens erwarten lassen. Unterhalb eines Schwellenwertes von 35 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen kommen insbesondere Schutzmaßnahmen in Betracht, die die Kontrolle des Infektionsgeschehens unterstützen.
Nach Unterschreitung eines der genannten Schwellenwerte können die getroffenen Schutzmaßnahmen aufrechterhalten werden, „soweit und solange“ dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 „erforderlich“ ist.
Die Erforderlichkeit ist damit nunmehr bundesrechtlich abgestuft – wenngleich mit vielen Fragezeichen und dem Verdacht eigener Inkongruenz. Kann ein Inzidenzwert von 40 noch umfassende Maßnahmen erlauben, wenn der Trend gerade sinkt, während er diese Maßnahmen nicht erlaubt, wenn der Trend gerade steigt?
Ist der wahre Schwellenwert nun 42,5? Antwort schon aufgrund der exponentiellen Entwicklung des Infektionsgeschehens: Vermutlich nicht. Also doch alles Gestaltungsspielraum?
Rechtlich wird es nochmal spannend im Frühjahr und weiterhin gilt: Der Rechtfertigung bedarf die Grundrechtseinschränkung, nicht ihre Aufhebung. Zur rechtlichen Überprüfung steht die Schließungsmaßnahme, nicht das Lockerungskonzept. Grundrechte sind keine Privilegien, sondern eine Basis des demokratischen Rechtsstaats.
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